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Den Rechtsanspruch im Blick!

Kommunale Steuerungs- und Planungsprozesse bei der Entwicklung von Räumen und Flächen für den Ganztagsausbau

Am 09.03.2023 fand in den Räumlichkeiten des Instituts für Soziale Arbeit die nächste Veranstaltung in der Reihe „Den Rechtsanspruch im Blick“ statt. Thematisch ging es dieses Mal um „Kommunale Steuerungs- und Planungsprozesse bei der Entwicklung von Räumen und Flächen für den Ganztagsausbau“. Neben einem Praxisimpuls aus der Stadt Witten im Ennepe-Ruhr-Kreis und einem Fachimpuls zum Thema Brandschutz hatten die Teilnehmenden außerdem Zeit, um sich mit Vertreter*innen anderer Kommunen zum Thema Räumlichkeiten und Flächen auszutauschen. 

Zunächst begrüßte Projektleiter André Altermann die Teilnehmenden und führte thematisch in den Tag ein. Er unterstrich hierbei, dass das Thema „Räume“ in der Pädagogik Tradition habe und nicht erst seit der Einführung des Ganztags respektive dem anstehenden Rechtsanspruch diskutiert wird. In der Reggio-Pädagogik wird der Raum beispielsweise als dritter Pädagoge (neben den Kindern und der Lehrperson) betrachtet, welchen es entsprechend zu gestalten gilt. In der Vergangenheit wurden die Vorstellungen guter bzw. zeitgemäßer Pädagogik in Gebäuden verewigt (z.B. ‚Flurschulen mit Schuhkartonklassen‘) mit denen heutzutage gearbeitet wird bzw. die es gilt entsprechend heutiger Vorstellungen zeitgemäßer Bildung umzugestalten. In diesem Sinn könne das Ganztagsförderungsgesetz auch als Chance betrachtet werden, solche ‚tradierten‘ pädagogischen Raumkonzepte mit entsprechenden Investitionsmitteln zeitgemäßer zu gestalten und an heutige Anforderungen an Bildung und Erziehung anzupassen. Neben dem quantitativen Ausbau, um mehr Plätze bzw. Kapazitäten für den Ganztag zu schaffen, ginge es ebenso darum, auch qualitative Aspekte dabei mitzudenken, damit der Raum als dritter Pädagoge seine Wirkung entfalten könne. Die kommunale Steuerungsebene ist dabei besonders gefordert, bei entsprechenden Planungsprozessen die späteren Nutzer*innen und Stakeholder (wie beispielsweise Kinder, Pädagogische Kräfte, Eltern, Einrichtungen im Sozialraum) bereits frühzeitig zu beteiligen.  

Hieran anschließend stellten Sandra Bexen und Petra Klein vom Baudezernat die Philosophie der Stadt Witten bei der Stadtentwicklung, auch in Bezug auf den OGS-Ausbau, vor und verdeutlichten diese exemplarisch am Beispiel des „Bildung(s)Quartiers Annen“. 

Wie in zahlreichen anderen Kommunen, so stellt die Schaffung ausreichender Ganztagsplätze auch in Witten eine Herausforderung dar.  Aufgrund von begrenzten Flächen innerhalb und außerhalb der Grundschulgebäude, sind An- und Ausbauten häufig nicht möglich. Die Kommune hat sich allerdings, über den Rechtsanspruch hinaus, dazu verpflichtet, einen kindgerechten und fördernden Ganztag mit ausreichend Plätzen für alle Bedarfe zu schaffen und dabei die Qualität und eine gute Lernkultur nicht zu vernachlässigen. Aufgrund der begrenzten Flächenkapazitäten ist hierfür ein neues Verständnis von Schule notwendig – Schule als Teil des Quartiers. Denn nur durch das Zusammenwirken mit unterschiedlichen, auch außerschulischen Professionen vor Ort, kann diese Selbstverpflichtung Wirklichkeit werden. Um das zu erreichen, bedient sich das Baudezernat in Witten bei Projekten den Instrumenten des Konzepts der integrierten Stadterneuerung. Ziel dessen ist es, den Stadtraum nachhaltig an die gesellschaftlichen Entwicklungen und die Anforderungen an gutes Arbeiten, Wohnen und Leben anzupassen. Aspekte, die bei einer integrierten Stadterneuerung berücksichtig werden müssen sind:  

  • Die aktive Mitgestaltung durch die Bürger*innen 
  • Eine Bedarfsorientierung als verbindliche Entscheidungsgrundlage
  • Ein bürgerschaftliches Miteinander 
  • Eine integrierte, ämterübergreifende und interdisziplinäre Zusammenarbeit 
  • Ressourcenschonendes Bauen/Gestalten mit einem Mehrwert für alle Beteiligten 

Eine integrierte Stadterneuerung lasse sich laut Frau Klein mit den Worten „Voneinander Wissen, gemeinsam planen und abgestimmt Handeln“ zusammenfassen. Entsprechend handele es sich immer um eine interdisziplinäre und partizipative Prozessorganisation. 

Übertragen auf die Gestaltung der offenen Ganztagsgrundschulen in der Kommune, werden entsprechend die folgenden Instrumente genutzt – auch im Hinblick auf die Erfüllung des ab 2026 geltenden Rechtsanspruchs:  

  • Die Verwendung neuer Modelle der Raumplanung, wie beispielsweise das Klassenraum-Plus-Prinzip (Vergrößerung des Klassenraums durch einen angrenzenden Gruppenraum oder andere angrenzende Flächen, wie z.B. dem Flur), das Cluster-Modell (Lernräume, Differenzierungs- und Rückzugsräume sowie Teamräume etc. von drei bis sechs Klassen werden zu einer eindeutig identifizierbaren Einheit mit einer erkennbaren Cluster-Mitte zusammengefasst) oder offener Lernlandschaften (Klassenübergreifend werden multifunktionale offene Lernzonen gebildet, die ein differenziertes Lernen in Gruppen ermöglichen)[1]
  • Die Flexibilität von Schulneu-, -erweiterungs- und -umbauten (keine Flurlösungen) 
  • Die multifunktionale Nutzbarkeit sowohl während der Zeit, in der die Kinder anwesend sind, als auch darüber hinaus (z.B. Nutzung der Mensa als Veranstaltungs- und Versammlungsraum für die Bürgerschaft)
  • Und damit zusammenhängend eine Einbindung in das Umfeld bzw. Quartier 

Diese Instrumente und Prinzipien verdeutlichten die beiden Referentinnen anschließend am Beispiel des Bildung(s)Quartiers Annen, welches nach einem integrierten bottom-up-Ansatz entwickelt wurde. Die Ausganglage, die eine Quartiersentwicklung notwendig machte, war ein sanierungsbedürftiges Grundschulgebäude sowie eine sanierungsbedürftige Sporthalle. Ebenso fehlte ein Stadtteilzentrum, bei gleichzeitigem Wunsch der Anwohner*innen nach einem bürgerschaftlichen Zentrum bzw. einer „gefühlten“ Mitte im Quartier. 

Davon ausgehend startete 2017 ein längerfristiger Prozess der Quartiersentwicklung, bei dem – getreu dem bottom-up-Ansatz – die gemeinsame Betrachtung der örtlichen Potenziale und Bedarfe, die Grundlage für die Erarbeitung einer gemeinsamen Vision bildeten. Es wurden zahlreiche Akteur*innen einbezogen, Bedarfe erhoben, gebündelt und so aus Idealvorstellungen realisierbare Handlungsoptionen abgeleitet. Hierzu gab es zunächst mehrere partizipative Planungsprozesse in Form einer „Phase Null“[2], bei der unterschiedliche Nutzungsbedarfe und dafür benötigte Räume am Standort ermittelt wurden. Deutlich wurde dabei auch noch einmal der Wunsch nach einer multifunktionalen Nutzung des Bildungsquartiers, auch über ganztagsschulische Zwecke hinaus. 

Im Anschluss wurden die vielfältigen Bedarfe und Interessen in ein konkretes Raumkonzept übertragen, eine Machbarkeitsstudie durchgeführt und anschließend ein Architektenwettbewerb ausgeschrieben. Aus den eingereichten Vorschlägen wählte eine interdisziplinäre Jury aus Architekt*innen, Landschaftsplaner*innen, Lokalpolitiker*innen, Schulleitung, Sportvereinen sowie Elternschaft das beste Konzept aus. Diese interdisziplinäre Jury war und ist, aus Sicht von Frau Klein und Frau Bexen, ein wesentlicher Erfolgsfaktor für das Projekt, da hierdurch die Expertisen und Bedarfe der unterschiedlichen Professionen und Nutzer*innen bei der Auswahl des Architektenbüros berücksichtigt wurden. Außerdem ist durch diese Beteiligung der unterschiedlichen Akteur*innen auch die Identifikation mit dem Projekt gestiegen ebenso wie der Wille, dieses gut umzusetzen. Ein weiterer Erfolgsfaktor für das Projekt ist die bis heute gute und enge Zusammenarbeit mit dem beauftragten Architekturbüro. Die weitere Zeitschiene datiert den Baubeginn auf April 2023 und die voraussichtliche Eröffnung des Quartiers im Sommer 2025.

Alles in allem stellt die Umgestaltung des Bildung(s)Quartiers Annen aus Sicht von Frau Bexen und Frau Klein keinen gewöhnlichen Schul- bzw. OGS-Bau dar. Da es sich gleichsam um ein Bürgerzentrum handelt und viele unterschiedliche Interessen miteinander in Einklang gebracht werden mussten, war der Aufwand deutlich höher, aber aus Sicht der Referentinnen wird nach Fertigstellung auch ein deutlicher Mehrwert für das gesamte Quartier entstehen. Für die erfolgreiche Umsetzung des Projekts war es außerdem notwendig, das Vorhaben immer wieder im Gemeinderat zu präsentieren sowie transparent – auch bei Kostenentwicklungen – zu informieren, um den weiteren Rückhalt sicherzustellen. Abschließend betonten die Referentinnen, dass es vor allem bei der Dauer eines solchen Projekts (gesamte Prozessdauer 2014 bis 2025) eine verantwortliche Person geben müsse, welche die Fäden zusammenhält. 

Bei der anschließenden Diskussion gab es seitens der Teilnehmenden zunächst Fragen dazu, wie die multifunktionale Nutzung des Bildungsquartiers nach Fertigstellung geplant sei. Frau Klein berichtete, dass es verschiedene Überlegungen hierzu gäbe, die noch nicht finalisiert sind. Dazu zähle die Nutzung von Klassenräumen als Bürgertreff, die Öffnung der Schulhöfe für die Öffentlichkeit am Nachmittag und die Nutzung der Mensa für außerschulische Zwecke. Besonderheit der Mensa ist, dass sie mit zum Bildungsquartier und nicht ausschließlich zur Schule gehört. Es ist angedacht, für das gesamte Quartier eine zusätzliche Kraft einzustellen, die im Quartier die Nutzungskoordination übernimmt, wozu dann ebenfalls die Mensa – immer in Rücksprache mit der Schulleitung – zählen würde. Insbesondere was das Mobiliar der Räumlichkeiten in Schule und im ganzen Quartier angeht, sind aktuell Jugendamt und Schulverwaltungsamt der Stadt Witten gefragt, diese so zu gestalten, dass die Räume so alltagstauglich und multifunktional wie möglich genutzt werden können. 

Nach einer kurzen Pause wurde Andreas Flock, Architekt und Brandschutzexperte aus Berlin, digital zugeschaltet. In seinem Input referierte er über Möglichkeiten einer modernen Interpretation des Brandschutzes und wie sich hierdurch Gestaltungsräume für pädagogische Einrichtungen ergeben können. 

Laut Herrn Flock komme es beim Brandschutz vor allem auf den Prozess und eine wechselseitige Verständigung zwischen Brandschutzbeauftragten und Gebäude-Nutzer*innen an. Beim Brandschutz gehe es nicht nur um feststehende Vorschriften, sondern es handele sich auch immer um einen Aushandlungsprozess, bei dem einer guten und verständnisvollen Kommunikation eine große Bedeutung zukomme: Diese mache, so Herr Flock, einen Großteil des Erfolges aus. Darüber hinaus gelte es, sich bei seinen Ideen und Vorhaben nicht von kommunalen Brandschutzbeauftragten entmutigen und nicht mit vorgeschobenen Begründungen für etwaige Einschränkungen abspeisen zu lassen: Viele brandschutzrechtliche Einschränkungen vor Ort seien nicht im Baurecht verankert. Diese müssen aber immer logisch und begründbar sein. Dies lässt sich am Beispiel der Nutzung von Schulfluren verdeutlichen: Oftmals stehe in Schulbauleitlinien nur, dass eine Nutzung im Brandfall ausreichend lang möglich sein muss. Diese Vorgabe erteile einer pädagogischen Nutzung keine generelle Absage. Solange gewisse Kriterien eingehalten werden, wie beispielsweise eine entsprechende Rettungswegbreite (eine Mindestbreite von 1,5 Metern sei hier zumeist ausreichend) sowie Unfall- (z.B. durch die Befestigung von Einbauten) und Verletzungsgefahren (z.B. durch das Vermeiden freier Ecken) minimiert werden, sei auch eine pädagogische Nutzung von Fluren möglich. Jedoch gäbe es beim Brandschutz keine Patentrezepte, sondern immer nur individuelle Lösungen für den jeweiligen Standort.  


 

Vortrag Andreas Flock - Brandschutz in Bildungseinrichtungen


Im Anschluss an den Input wurde eben dieses Fehlen von allgemein übertragbaren Lösungsansätzen im Brandschutz bemängelt. Auch mit dem Wissen von gelungenen Lösungen an anderen Standorten sei Brandschutz oft ein schwieriges Thema, da es keine verbindlichen Referenzen gäbe. Oftmals handele es sich um Einzelfallentscheidungen, die nicht verallgemeinert werden können. Laut Herr Flock lassen sich pauschale Einschränkungen (beispielsweise ein generelles Nutzungsverbot von Fluren) nicht aus dem Baurecht ableiten, welches jedoch entscheidend sei. Die Feuerwehr bzw. der Brandschutzbeauftragte solle in solchen Fällen die jeweiligen Bedenken zur Geltung bringen, und hiervon ausgehend kann gemeinsam nach Lösungen bzw. Kompromissen gesucht werden. 

Bei Streitfragen gäbe es darüber hinaus die Möglichkeit, Fachexpert*innen zurate zu ziehen.  Häufig mache es auch Sinn, sich zunächst von Architekt*innen sowohl zum Ablauf als auch zur fachlichen Umsetzung von Vorhaben beraten zu lassen und im Anschluss auf die Entscheidungsträger*innen zuzugehen. Denn Brandschutz sei immer logisch und wenn nach dieser Logik Vorhaben geplant werden, können sie auch nicht untersagt werden.  

Am Nachmittag hatten die Teilnehmenden noch einmal die Möglichkeit, sich mit Vertreter*innen aus anderen Kommunen zum Thema Räume und Flächen sowie über Erkenntnisse des Tages auszutauschen. Dabei wurde deutlich, dass aus beiden Beiträgen die Hauptbotschaft mitgenommen wurde, dass eine transparente und kontinuierliche Kommunikation mit den relevanten Akteur*innen ausschlaggebend ist, egal ob es um das Thema Brandschutz oder um die kommunale Schulbauentwicklung geht. Insbesondere beim Thema Brandschutz meldeten die Teilnehmenden zurück, dass nochmal deutlich geworden sei, wie notwendig die interkommunalen Abstimmungsprozesse sind.

Bezüglich des Praxisbeispiels aus Witten meldete eine Teilnehmerin, die für einen Schulträger tätig ist, zurück, dass es in ihrer Kommune bislang keine Kooperation mit der Stadterneuerung bzw. dem Immobilienmanagement gäbe. Der Beitrag habe aber deutlich gezeigt, welches Potenzial darin für den OGS-Ausbau läge. 

Insgesamt wurde allerdings auch betont, dass solch ein langer Entwicklungsprozess, wie er in Witten stattgefunden hat, in vielen Kommunen in Hinblick auf den Rechtsanspruch ab 2026, nicht umsetzbar ist. Die Herausforderungen für die nächsten Jahre seien andere und der Druck sei so groß, dass es auch nicht möglich sein werde, immer alle Akteur*innen mitzunehmen. Vertreter*innen aus der Stadt Hagen stellten, bezugnehmend auf den Wunsch nach ‚schnelleren‘ Lösungen für die Raumfrage, das dort umgesetzte Rhythmisierungsmodell vor. Dieses sieht die Doppelnutzung von Räumen für Unterricht und OGS bei gleichzeitiger Erhöhung der Stundenanzahl der OGS-Fachkräfte vor, sodass diese bereits im Vormittag mitwirken können. Die bestehenden Räume entsprechend multifunktional – z.B. durch flexibles Mobiliar – zu gestalten und diese gemeinsame Raumnutzung auch personell zu unterstreichen, sei auf jeden Fall günstiger und einfacher umsetzbar als ein Neubau. 

Das Netzwerktreffen am 09.03. sowie weitere Veranstaltung zeigen immer wieder auf, dass das Schaffen ausreichender und adäquater Räumlichkeiten und Flächen für den Ganztagsausbau eine zentrale Herausforderung ist und bleibt. Der interkommunale Austausch über etwaige Lösungsansätze im Hinblick auf den Ganztagsausbau bleibt aus diesem Grund auch in Zukunft weiterhin relevant und soll im Rahmen des Projektes fortgesetzt werden.